„Workoholic“ – Beziehungskiller mit Geschichte

Ein realer Fall aus der Beratungspraxis von Torsten Wulff

Frau J., eine ehemalige Kundin, ruft mich in meiner Sprechzeit an, um mit mir über ihren Ehemann zu sprechen. Die Frau hat vor zwei Jahren ihren Partner geheiratet, von dem sie bereits in unserer Beratung vor sechs Jahren begeistert gesprochen hatte. Ich weiß noch, wie sehr ihr damals der Fleiß und die Zielstrebigkeit des Mannes, in den sie sich neu verliebt hatte, imponiert hatte. Im Laufe unseres Telefonates wird schnell klar, dass genau diese Eigenschaften mittlerweile zu einem Problem für die Beziehung geworden sind. Frau L. erzählt mir, dass sie nicht mehr ein noch aus weiß und sich immer häufiger der Gedanke an Trennung aufdrängt. Ihr Mann kenne nur seine Arbeit und die Nöte seiner Mitarbeiter. Für ihre Nöte, geschweige denn schöne Stunden zu zweit, habe er überhaupt keine Zeit. Kurz nach der Hochzeit sei ihr Mann, anerkannter Experte für Feststoffpumpen in der Region Hamburg, aus der Entwicklung in den Vertrieb gegangen, um kurze Zeit später als Vertriebschef die Verantwortung für insgesamt elf Mitarbeiter zu übernehmen. Sein persönlicher Aufgabenbereich lag seitdem im „after sales“: er umfasste die Betreuung der Großkunden und deren Beratung vor allem in technischen und planerischen Fragen.

Ich erinnere mich, dass  Frau J. den neuen Mann an ihrer Seite schon vor sechs Jahren als Workoholic bezeichnet hatte, damals allerdings noch mit einem wohlwollenden  Augenzwinkern. Inzwischen, so entnehme ich ihren Worten, war dieses  wohlwollende Verständnis Ratlosigkeit und Enttäuschung gewichen. Seine neue Aufgabe  habe ihn von Beginn an bis heute in ein extremes Arbeitspensum von 70 Wochenstunden und mehr getrieben. Anders als in den ersten Wochen und Monaten, in denen Frau J. durchaus Verständnis hatte und auf gemeinsame Abende und Wochenenden verzichtete, war nun ihre Geduld und Bereitschaft, die vielen Überstunden zu entschuldigen, aufgebraucht. „Ich habe das Gefühl, er hat sein Interesse an mir und unserer gemeinsamen Zukunft vollkommen verloren.  Eigentlich wollten wir doch noch Kinder haben. Aber darüber kann ich schon seit Monaten mit ihm nicht sprechen. Für Sex ist er sowieso immer zu müde“, beklagt sich Frau J.. Sie bittet mich – im Auftrage ihres Mannes – um eine Beratung für ihn. Er habe sie darum gebeten, als sie in der letzten Woche ernsthaft von einer möglichen Trennung gesprochen hatte.

Zum Erstgespräch in meiner Familienberatungs- und Coachingpraxis in Hamburg erscheint Herr J. recht niedergeschlagen. Seine Frau habe, nach einem Streit neulich ernste Trennungsabsichten bekundet. Herr J. wirkt bestürzt. „Ich bin so heftig in den Abschluss eines großen Verkaufsprojektes eingebunden und eigentlich so erschöpft. Und jetzt das noch. Ich kann mich damit eigentlich gar nicht beschäftigen im Moment. Ich will nicht, dass meine Ehe in die Brüche geht. Aber gerade jetzt kann ich ihre Forderung, früher nach Hause zu kommen, mehr Zeit mit ihr zu verbringen, nicht erfüllen. Ich kann meine Mitarbeiter mit dem Projektabschluss doch jetzt nicht allein lassen. Ich weiß keinen Rat. Herr Wulff, was soll ich tun?“

Ich antworte, dass ich ihm im Laufe einer Beratung helfen kann, eine Antwort auf diese Frage zu finden. Bevor ich ihm aber ein Angebot zur Vorgehensweise machen kann, beschäftigen mich noch einige Fragen. Zunächst interessiert mich, ob es Phasen in seiner Partnerschaft mit Frau J. gab, in denen er mehr Zeit mit ihr verbracht hat.

„Ja“, antwortet er prompt, mit einem Schimmer von Freude in seinem Gesicht. Er erinnert sich an eine gemeinsame Reise nach Vietnam, die er mit großem Aufwand vorbereitet habe. Sie waren noch ganz frisch verliebt, „und sie war immer so voller Lob und Dankbarkeit. Nicht nur angesichts der guten Reisevorbereitung, auch später, als ich die die neue Wohnung vollkommen renoviert hatte. Das war schön!“, erinnert er sich. Ihm falle gerade auf, bemerkt Herr J. plötzlich, dass ihm seine Arbeit in dieser Zeit weniger wichtig war. „Das Wichtigste war Karin. Sie sollte sich wohlfühlen. Sie hat anfangs immer bewundert, was ich alles dafür tue. Das hat sich richtig gut angefühlt!“ „Und was ist dann passiert, wie hat sich das verändert?“, möchte ich wissen. Dann sei eine gewisse Routine in das Zusammenleben mit Karin eingekehrt. Die Verhältnisse waren klar. Es wurden langfristige Pläne geschmiedet, von Kindern war die Rede. In der Zeit haben sie  beschlossen zu heiraten. Gleichzeitig wurde ihm in der Firma die Führungsaufgabe im Vertrieb angeboten. Herr J. habe sie nicht ganz ohne Zögern angenommen, denn er ahnte wohl schon, dass er dann viel arbeiten müsste und dass dies vielleicht schwer mit der Gründung einer Familie zu vereinbaren sei.

„Und nun ist es tatsächlich so gekommen, dass die neue Aufgabe zu Lasten ihrer Ehe, ihrer Familienpläne geht“, bemerke ich. „Ja“, sagt Herr J. sichtlich bekümmert. „Karin hat das lange angekündigt. Ich habe nicht erst in der letzten Woche verstanden, dass sie es ernst meint. Tatsächlich habe ich ihr fast jeden Tag versprochen, früher nach Hause zu kommen. Aber ich habe es einfach nie geschafft, dieses Versprechen einzulösen. Ich konnte mich kaum losreißen von den Aufgaben. Es ist wie eine Sucht“, schließt Herr J.

Tatsächlich kann auch Arbeit einen suchtartigen Charakter annehmen, die große Anstrengung und der Erfolg stellen dann ein verstärkendes und aufrechterhaltendes Erlebnis dar, ähnlich wie Alkohol oder Drogen. Ich frage daher genauer nach, was ihm das viele Arbeiten bedeutet, warum es ihm jeden Abend wieder so schwerfällt, sich von der Arbeit loszureißen, während die Kollegen schon längst ihren Feierabend genießen.  „Ja, Karin versteht das ja auch nicht. Sie glaubt schon länger, ich sei arbeitssüchtig“ denkt er laut. „Aber ich will einfach nur meine Arbeit gut machen. Dafür habe ich schon immer Überstunden gemacht.  Ich bin halt ein sehr pflichtbewusster Mensch. Meine Führungskräfte haben mir oft ihre Anerkennung dafür und für die guten Arbeitsergebnisse gezeigt. Letztlich mit dem Angebot der Position als Vertriebsleiter. Und nun sollen sie sich weiter auf mich verlassen können. Allerdings habe ich jetzt nicht mehr nur die Verantwortung für meine eigene Arbeit, sondern auch für die meiner elf Mitarbeiter. Es ist mir wichtig, ihre Ergebnisse zu prüfen und ihnen Hilfestellung zu geben. Das braucht Zeit, und manchmal komme ich dann erst am Abend dazu, meine eigenen Aufgaben zu erledigen. Mein neuer Chef war kürzlich des Lobes voll angesichts der Zahlen, die unsere Abteilung im letzten Jahr erreicht hat. Und der kann echt unangenehm werden wenn er unzufrieden ist. Michael das sehr gefreut, und irgendwie beruhigt.“

Mir ist es wichtig, Paaren und Einzelpersonen wie Herrn J., die wegen Beziehungsthemen meine Hilfe suchen, nachhaltig zu helfen. Als langjähriger Berater weiß ich, dass es hier in aller Regel nicht mit Trainings, in denen Formulierungsstrategien eingeübt werden, getan ist. Solche Trainings können nicht den Rahmen schaffen, der nötig ist, um ein jahrelang etabliertes Verhaltensmuster dauerhaft zu verändern. Darum geht es bei Herrn J. Hierfür müssen zunächst die individuellen Hintergründe des Musters tiefgründig erfasst werden. Nicht nur ich als Berater, sondern auch der Klient muss verstehen, was dieses Muster ursprünglich motiviert und was später zu seiner Aufrechterhaltung beigetragen hat.

Während der letzten Sätze von Herrn J. war in mir eine Idee entstanden, wo vielleicht Ursachen für seine Unfähigkeit, seine Arbeitszeit auf ein angemessenes Maß zu reduzieren, liegen könnten. Herr J. vermittelt durch sein Erzählen insgesamt den Eindruck, dass für ihn Anerkennung in einem überdurchschnittlich hohen Maße wichtig ist. Zu Beginn der Beziehung mit Karin hat er diese Anerkennung von ihr bekommen, später von seinen Führungskräften, und anfangs auch von seinen Mitarbeitern. Immer folgte die Anerkennung auf sein hohes Engagement in einer Sache, wie zum Beispiel die gute Vorbereitung der Vietnam-Reise. Wer würde sich nicht über die Maßen ins Zeug legen, wenn der „Lohn“ dafür die Befriedigung eines wichtigen Bedürfnisses ist?

Herrn J. könnte geholfen werden, wenn wir – falls sich die Hypothese bestätigt – die Quellen dieses Bedürfnisses aufspüren könnten. Ich habe während meiner langjährigen Arbeit als Berater vielfach erfahren, dass der Antrieb für ein Verhalten, das aus heutiger Sicht unvorteilhaft, störend oder gar krankmachend ist, aus einer Zeit stammt, in der das Verhalten einen Nutzen, einen Sinn hatte. Oft war eben dasselbe Verhalten in früheren Tagen eines heranwachsenden Menschen sogar Bedingung, um ein existenzielles Bedürfnis zu befriedigen. In solchen Fällen ist es tief in der Psyche dieser Menschen verankert. Auf meinem Business-Coaching Blog (torstenwulff.com) habe ich von Herrn L. erzählt, dem im Laufe des Beratungsprozesses bewusst wurde, wie seine übermäßige, ihn krank machende Hilfsbereitschaft aus frühen Kindertagen herrührt. Bereits im Alter von sechs Jahren avancierte er zum „kleinen Hausmann“ seiner alkoholsüchtigen Mutter, wodurch er – im Ringen um deren Liebe  –  wenigstens etwas Zuwendung und Anerkennung erlangen konnte.

Bevor ich Herrn J. meine Hypothese erläutere, greife ich noch seine Äußerung vom Beginn unseres Gesprächs auf. Er hatte dort beiläufig von Erschöpfung gesprochen. Ich frage nach, wie es denn ihm selbst mit seinem Arbeitspensum und dem Druck angesichts des Projektabschlusses geht. Herr L. wird nachdenklich. Ja, früher hätte ihm ein großes Arbeitspensum tatsächlich nie etwas ausgemacht. Mittlerweile werde er schneller müde, und im Moment sei er wirklich sehr erschöpft. Es sei, als würde eine Krankheit in ihm stecken, die aber nicht ausbrechen dürfte. „Dafür hätte ich doch auch keine Zeit,“ scherzt er. Er schlafe neuerdings öfter schlecht, manchmal wache er nachts mit einem mulmigen Gefühl auf. Dann fallen ihm Gespräche mit seinen Mitarbeitern ein. Diese zeigen immer weniger Begeisterung, wenn er in einer ‚Nachtaktion‘ ihre Arbeit fertigstellt. Im Gegenteil – kritische Töne werden hörbar. Auch seine gut gemeinten Ratschläge zu besseren Arbeitstechniken oder effizienteren Abläufen kommen immer weniger gut an. Ein Mitarbeiter hat ihm neulich sogar direkt gesagt, dass viele Mitglieder seines Teams sich oft bevormundet fühlen. Karin habe versucht, ihm das zu erklären. Er hat es nicht verstanden, aber er konnte ahnen, dass etwas dran sei.

In den letzten Tagen denke er oft an die Zeit zu Beginn seiner Beziehung mit Karin. Er erinnert sich an die gemeinsame Reise, an lange Spaziergänge, Einkaufsbummel für die Wohnungseinrichtung und die Einweihungsfeier. Alle Freunde waren gekommen. Menschen, die er nun schon lange nicht mehr gesehen hat. „Ich glaube, ich muss wirklich schaffen, auf der Arbeit etwas anders zu machen. Andere können das doch auch. Keiner arbeitet so lang wie ich! Wenn ich es schaffe, von meiner Arbeitssucht loszukommen, kann ich nicht nur meine Ehe retten, sondern auch mein Privatleben zurückgewinnen.“

Diese Antworten von Herrn L.  zeigen noch einmal mehr, wie problematisch sein Überengagement für ihn selbst ist. Nicht nur, dass es seine Ehe bedroht – es bringt ihm auch die Kritik seitens seiner Mitarbeiter ein. Falls sein Verhaltensmuster jemals durch ein überdurchschnittliches Bedürfnis nach Anerkennung motiviert war – heute verkehrte sich dieser Nutzen beinahe in sein Gegenteil.

Darüber hinaus klingen Herrn L.`s letzte Überlegungen nach einer guten Motivation für eine echte Veränderung in seinem Leben. Ich erläutere ihm nun meine Hypothese und die Konturen des Beratungsprozesses, wie sie sich gerade in meinen Gedanken abzeichnen: Seine nachhaltige Veränderung wird über ein Verständnis dessen gelingen, was er tut und warum er es tut, was daran heute nicht mehr funktioniert, über eine Erkenntnis, warum er es bisher dennoch fortsetzt, hin zu einer bewussten individuellen Korrektur durch wirksame Selbststeuerung. So wird ihm ein angemessenes Führungsverhalten und eine ausgewogene Lebensführung im Beruf wie im Ehe- und Privatleben möglich sein. In diesem Sinne biete ich ihm an,

  • dass wir gemeinsam weitere Kenntnisse über seine „Arbeitssucht“ erlangen,
  • dass ich ihm helfe, Bewusstheit über die ursprünglich sinnvolle Funktionsweise seines Verhaltens zu erreichen,
  • dass ich ihm helfe zu erkennen, inwiefern das Verhalten heute kontraproduktiv ist, und dass das ursprünglich dahinter liegende Bedürfnis heute anders erfüllt wird,
  • um auf dieser Grundlage wirksame Veränderungen des Verhaltensmusters zu erreichen.

Ich bitte ihn, eine Nacht darüber zu schlafen und mit einer vertrauten Person über meine Vorannahmen zu sprechen. Bereits zwei Tage danach erreicht mich eine Nachricht von Herrn J. Er wolle sich auf den Prozess einlassen, er sei neugierig, was herauskommen wird. Tatsächlich glaubt Herr J., der mit seiner Frau über meine Herangehensweise gesprochen hat, schon eine Idee zu haben, wo ihm sein besonderes Engagement für die Arbeit einen echten Vorteil verschafft haben könnte. Ich empfehle ihm, alles aufzuschreiben und zu unserer nächsten Sitzung mitzubringen.

Ich war von Anfang an zuversichtlich, dass Herr J. durch unsere Zusammenarbeit einen nachhaltigen Ausweg aus der Krise finden würde. Ein gutes Zeichen schien mir nicht nur seine ausgesprochene Neugierde auf den Prozess, die ich als Voraussetzung für eine engagierte Mitarbeit meines Klienten sah. Auch die Tatsache, dass ein positiver Ruck durch die Beziehung zwischen Herrn und Frau L. ging, gleich nachdem die beiden über unser Vorhaben gesprochen hatten, stärkte meine Zuversicht. Offenbar war seine Frau bereit, ihren Mann in seinem Prozess nach besten Kräften zu unterstützen.

Tatsächlich waren die nächsten Wochen Ausdruck vertrauensvoller und am Ende erfolgreicher  Zusammenarbeit. In einem der nächsten Artikel auf diesem Blog werde ich berichten, wie dieser Prozess weitergegangen ist und was zu seinem Erfolg geführt hat.

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