Dipl.-Psychologe Torsten Wulff: Wenn Wünsche und Abneigungen keinen Ausdruck finden, zerstören innere Konflikte deine Beziehungen

Markus D. ist seit 4 Jahren mit seiner Partnerin zusammen. Erst seitdem gehe es ihm richtig gut, sagt er. In den letzten Monaten jedoch ist etwas sehr Merkwürdiges passiert: Er hat Ekelgefühle gegen bestimmte Geräusche seiner Partnerin entwickelt. Im Besonderen kann er nicht aushalten, ihr beim Essen ‚zuzuhören‘. Dabei esse sie überhaupt nicht unappetitlich. Aber schon die geringsten Kaugeräusche veranlassten unüberwindbare Abneigung, erzählt Markus D. in einem ersten Gespräch mit mir als Paar- und Familientherapeuten. Mittlerweile müsse er des Öfteren den Tisch verlassen, weil er es nicht mehr aushalte. Natürlich könne er seiner Partnerin nicht die Wahrheit sagen, und deshalb entstünden auch bei ihr Irritationen. In den letzten Wochen sei er deshalb immer öfter länger auf der Arbeit um zum Essen nicht zu Hause sein zu müssen.

Nicht selten machen Menschen für sie so unerklärliche Erfahrungen in ihrer Beziehung wie Markus D. Die meisten glauben, mit ihrem Partner bzw. ihrer Partnerin über das Störgefühl nicht sprechen zu können. Bei so Manchem setzt sich irgendwann der Gedanke fest, das Störgefühl sei Symptom für das Absterben der Liebe. Andere halten es lange aus, ohne zu merken, wie dabei das Feuer tatsächlich erlischt.

Der Fall von Markus zeigt, dass es so weit nicht kommen muss. Allerdings lag die Lösung nicht darin, der Partnerin einfach zu sagen, was ihn so sehr stört. Vielmehr war es hilfreich, den Quellen des Störgefühls auf die Spur zu kommen.

Ein erster Hinweis war für mich die Selbstverständlichkeit, mit der mein Klient erzählte, dass er seiner Freundin die Wahrheit ja nicht offenbaren könne. Das ließ mich hellhörig werden. Auf mein Nachfragen räumte er ein, dass er immer wieder unaufrichtig sei. Wir fanden gemeinsam heraus, dass Markus D. sehr damit beschäftigt ist, seine Partnerin vor Sorgen, schweren Gedanken und Eifersuchtsgefühlen zu schützen.

Sehr deutlich zeigte sich dies – seinem Erzählen nach – als die Mutter vor knapp drei Jahren gestorben war: Zuvor hatte sie von der neuen Frau an seiner Seite nichts wissen wollen; Als Mutter war sie sehr fordernd und wollte ihren Sohn eigentlich für sich allein beanspruchen. Mit der Freundin hatte es deshalb die ersten Streits gegeben. Infolgedessen war diese für ihn auch nicht die erste Ansprechpartnerin, um  Trost und Zuspruch zu erhalten. Diese Rolle nahm eine langjährige Arbeitskollegin ein, mit der er sich in den Wochen danach des Öfteren traf. Es blieb nicht aus, dass sich die beiden näher kamen. Schließlich verliebte sich die Kollegin in ihn. Schon vorher hatte Markus D. aber entschieden, die Treffen vor seiner Partnerin zu verheimlichen. Auch wenn er die Beziehung zu ihr zu keiner Zeit gefährdet sah, hatte er offenbar Gründe, seine Partnerin vor Eifersuchtsgefühlen zu schützen. „Ich habe immer versucht, die Wahrheit für die Menschen, die mir nahestehen, schonend zu verpacken oder auch mal so zu verbiegen, dass sie weniger schlimm erscheint.“

Die Andeutungen meines Klienten über die Beziehung zu seiner Mutter  legten die Spur zu den Quellen seines aktuellen Störgefühls weiter frei. Was er mir auf meine Nachfrage erzählte, lässt sich so zusammenfassen:

Markus D. musste sich sehr viel um die Mutter kümmern, die nach dem plötzlichen Unfall-Tod seines Vaters immer missmutiger wurde und ihre frühere Freude an Kontakten verlor. Mein Klient war damals 12 Jahre alt; sein Bruder war fünf Jahre jünger. Mit ihrem „Großen“ sprach sie über alle Probleme; immer wieder suchte sie nach Bestätigungen dafür, wie ungerecht die Welt zu ihr sei. Markus D. entwickelte allmählich Strategien, um die Mutter nicht noch verzweifelter erleben zu müssen:

  • Er begann, unwahre Geschichten zu erzählen, wenn eine schlechte Note auftauchte, ein Kleidungsstück zerrissen war oder sich ein anderes kleines Unglücke ereignet hatte.
  • Eigene Probleme löste er für sich selbst.
  • Von Freunden zog er sich zurü Denn die Mutter war immer enttäuscht, wenn er an einem Nachmittag mal zu einem Freund gehen wollte.

Für einen zwölfjährigen Jungen, der von der Versorgung durch seine Mutter abhängig ist, waren das sehr sinnvolle Strategien. Sie gehen einher mit der Verleugnung von Gefühlen. So wunderte es mich auch nicht, als Markus D. auf meine Frage nach seinen Gefühlen in der Kindheit so gut wie nicht antworten konnte. „Wie ich mich gefühlt habe, darüber habe ich nie nachgedacht.“ Die Sorge um die Mutter und sein Bemühen darum, einigermaßen in der Schule mitzukommen, waren das Einzige, woran er sich erinnert.

Mit dem Erwachsenwerden änderte sich an seinem Verantwortungsgefühl für das Glück der Mutter nichts. Es hat sich eher zugespitzt, als sein Bruder zum Studieren nach Neuseeland ging. Seither lag die Sorge um die älter werdende Mutter allein bei ihm. Fast täglich telefonierte er mit ihr, auch, als er bereits mit seiner Freundin zusammen gekommen war. Am Wochenende zweigte er oft ein paar Stunden ab, um sie zu besuchen. „Abzweigen“ – das waren seine Worte, die mich wiederum aufmerken und nachfragen ließen. „Ja, oft habe ich diese Besuche vor meiner Freundin verheimlicht. Meine Mutter mochte meine Freundin nicht so gerne und so konnte ich sie nicht mitnehmen.“

Hier war es wieder: das Thema „Unaufrichtigkeit gegenüber der Partnerin“. Gerade zeigte es sich in einem Zusammenhang, der eine Verknüpfung nahelegt zwischen den Versuchen des Zwölfjährigen, die Verzweiflung der Mutter zu mindern, und dem Bemühen, die Partnerin vor Enttäuschungen zu schützen. Während mein Klient mir ein weiteres Beispiel für seine Unaufrichtigkeit gegenüber der Partnerin erzählt, wird ihm klar, dass die für den Zwölfjährigen hilfreiche Strategie nun nicht mehr funktioniert:

Eines Tages äußerte die Freundin den Wunsch, mit ihm ins Theater zu gehen. Er hatte dazu keine Lust, konnte ihr das aber nicht sagen. Als sie dann Karten gekauft hatte, war es ihm erst recht nicht möglich, seine Unlust zu äußern. Am Abend der Theaterveranstaltung hatte er noch länger im Büro zu tun, es war ihm wichtig, noch etwas fertig zu machen. Die Folgen sind schnell zusammengefasst: Er verpasste die Bahn und infolgedessen den Zug in den Vorort. Der Theaterbesuch fiel aus, die Partnerin war enttäuscht und wütend. Er reagierte mit Rückzug und „Flucht“, indem er am Morgen sehr früh zur Arbeit ging. Auch wenn der Zorn der Freundin ein paar Tage später verraucht war – das schlechte Gewissen hat meinen Klienten noch tagelang geplagt.

Dies sei kein Einzelfall, erzählt Markus D. anschließend. Im Zusammenhang mit unseren Vorgesprächen über seine Mutter erkennt er, dass er auch seine Freundin nicht gerne enttäuschen möchte. Dies müsse der Grund dafür sein, dass er ihr nicht sagen kann, was er nicht will. Stattdessen ziehe er sich in sich selbst zurück oder komme einfach nicht nach Hause. „Das entspricht meiner bisherigen Strategie meiner Mutter gegenüber, aber jetzt geht sie irgendwie nicht mehr auf“, sagt er dann. Denn sein Veralten habe in der jüngeren Vergangenheit schon dazu geführt, dass seine Partnerin die Beziehung zu ihm in Frage stellt.

Auf diese Weise erklären sich mir nun Markus D.`s Störgefühle gegenüber den Kaugeräuschen seiner Freundin: Gefühle sind Empfindungen, die sich im Inneren eines Menschen abspielen (intrapsychisch); der Ausdruck von Gefühlen richtet sich nach außen in den Zwischenraum zwischen zwei oder mehreren Menschen (interpsychisch). Kann einem Gefühl im Außen kein Ausdruck verliehen werden, bleibt es ein intrapsychischer Vorgang. Es kommt zum „Umgang“ mit diesem meist unerwünschten Gefühl in der Innenwelt des Menschen, die diesem meist unbewusst bleibt: Er empfindet Wut gegen sich selbst, ist von sich selbst enttäuscht oder empfindet eine tiefe, unerklärliche Traurigkeit, oder eben Ekelgefühle, die als nicht angemessen erlebt werden. (Auch psychosomatische Reaktionen können die Folge sein: chronische Übelkeit, Verdauungsprobleme bis hin zur Kolitis ulcerosa (Darmbluten), Verspannungen und in der Folge Bandscheibenvorfälle und Engegefühl in der Brust beim Atmen (Hintergrund z.B. für Herzneurose).)

Im Anschluss an die Erzählungen und Erkenntnisse meines Klienten über seine Unaufrichtigkeit gegenüber der Freundin beschließen wir  gemeinsam, die Partnerin zum nächsten Gespräch einzuladen.

In der darauffolgenden Sitzung darf ich dabei sein, als zwei Menschen zum ersten Mal über ihre Gefühle zueinander sprechen. Zunächst sind sie beide sehr zaghaft. Mein Klient sagt seiner Partnerin als erstes, dass er an Wochentagen, an denen er abends von der Arbeit müde sei, nicht mehr gerne ins Theater gehe. Nach einiger Verwirrung und die Erinnerung an den letzten ins Wasser gefallenen Theaterabend, ist die Freundin Frau K. verständnisvoll. Sie habe sich so etwas schon gedacht, hätte es aber besser gefunden, wenn er es ihr doch nur mal gesagt hätte. Ich erlebe einen Vormittag, an dem die Beiden sich erzählen, was sie in ihrem Zusammenleben schwierig finden. Die Stunden sind geprägt von gegenseitigem Verständnis, Verstehen und wohlwollender Zugewandtheit. Immer wieder ermutige ich meinen Klienten dazu, sich zu vergegenwärtigen, wie das jetzt erlebte Gespräch anders verlaufe als früher die Gespräche mit der Mutter. Er greift meine Anregungen engagiert auf und erzählt Frau K. von seiner schwierigen Mutter. Am Ende dieser langen Sitzung sind beide dankbar, so viel Neues von ihrem Partner erfahren zu haben.

In der nächsten Sitzung, die dann auch die letzte Sitzung werden sollte, frage ich meinen Klienten, wie der Tag weitergegangen sei. Beim Erzählen kehrt schnell die Begeisterung nach der letzten Sitzung in den Ausdruck des jungen Mannes zurück. „Wir sind im Anschluss an die Sitzung bei Ihnen Essen gegangen. Wir haben noch stundenlang geredet und sind erst am Abend wieder zu Hause gewesen.“ Sie hätten sich gegenseitig viel zu erzählen gehabt und – „bevor sie das nachfragen,“ sagt er – nur ein einziges Mal sei seine Freundin enttäuscht gewesen. Nämlich als sie erfahren habe, dass seine Mutter sie nicht mochte. Aber auch darüber haben sie gut sprechen können. Nein, das hätte ich nicht fragen wollen, denke ich. Mich interessierte, was mit den Kaugeräuschen beim Essen passiert ist. Darüber habe er auf der Fahrt in diese Sitzung nachgedacht. Nein, bei diesem Essen sei ihm da nichts aufgefallen, und auch danach habe er gar nicht mehr darauf geachtet. Tatsächlich sei ihm dieses Thema auf dem Weg hierher zum ersten Mal wieder eingefallen.

Weitere Infos zu ähnlichen Themen finden Sie auch auf torstenwulff.org, dem Eltern-Blog von Torsten Wulff.

 

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