Frau S., eine Frau Mitte 40, erscheint nach einem kurzen Vorgespräch am Telefon in meiner Praxis. Es gehe um Ihre Mutter, hatte sie angekündigt. Ihre Verzweiflung war deutlich herauszuhören. Alles, was sie sich in den letzten Jahren an Abstand zur Mutter aufgebaut hatte, sei zunichte gemacht geworden. Nun sitzt sie vor mir und macht einen sehr entmutigten Eindruck. Sie habe schon überlegt, diesen Termin abzusagen. Denn eigentlich glaube sie nicht, dass ich ihr helfen kann: Zeitlebens sei die Beziehung zu ihrer Mutter schlecht gewesen. In den letzten Jahren habe sie sich aber gut abgrenzen können. Gegen den teilweise erheblichen Widerstand der Mutter habe sie den Kontakt auf ein für sie vertretbares Maß reduziert. Nun aber, mit dem Krankenhausaufenthalt ihrer Mutter, sei sie in alte Muster zurückgerutscht. Trotz der im Grunde harmlosen Operation, die anstand, habe sie sich verpflichtet gefühlt, die eigentlich doch rüstige Dame ins Krankenhaus zu begleiten. Und obwohl die Operation gut verlaufen sei, habe sie eine Woche lang täglich einige Stunden bei ihr im Krankenhaus zugebracht – viele Stunden voller Klagen der Mutter über die schlechte Versorgung dort und über die Schmerzen, auf die die Ärzte keine Rücksicht nehmen würden. Mittlerweile liege ihre Entlassung schon einige Wochen zurück, aber an dem schlechten Erholungszustand der Mutter ändere sich nichts. Gegen die Erwartung von täglicher Fürsorge habe sich Frau S. bisher gewehrt. Allerdings besuche sie die alte Dame mindestens vier mal in der Woche, wasche für sie und mache den kompletten Einkauf.
Auf den ersten Blick geschieht hier nichts Besonderes: Die kranke Mutter hat vorübergehend einen höheren Versorgungs- und Zuwendungsbedarf und die längst erwachsene, in ihrem eigenen Leben stehende Tochter tut sich ein wenig schwer, den notwendigen Aufwand in ihrem eigenen Lebensalltag unterzubringen. Manchmal liegen die Dinge allerdings anders. In meiner langjährigen Tätigkeit als Familientherapeut war ich mit vielen Fällen beschäftigt, in denen sich ungeliebte und emotional schlecht versorgte Töchter in einer lebenslang krankmachenden Beziehung zu ihren Müttern befinden, ohne einen angemessenen Ausweg zu finden. Um herauszufinden, ob es sich hier um einen solchen Fall handelt, frage ich nach der Geschichte von Frau S. und ihrer Mutter. Zunächst erfahre ich Überraschendes:
Frau S. erzählt nämlich, dass sie vor fast zwanzig Jahren, um sich von ihrer Mutter zu lösen, noch in ihrer alten Heimat Hamburg in eine Psychotherapie gegangen war. Mit Erfolg – so ihre eigene Einschätzung. Sie hatte zu diesem Zeitpunkt gerade ihren heutigen Mann kennengelernt. Der sei der Mutter ein Dorn im Auge gewesen, die Mutter habe sich heftig gegen diese Verbindung gewehrt. In der Therapie habe die Klientin zum ersten Mal eine Erlaubnis erhalten, ihrem eigenen Lebensentwurf den Vorrang vor den Bedürfnissen ihrer Mutter einzuräumen. Im Laufe der über zweijährigen Therapie habe sie gelernt, sich gegen die unangemessenen Ansprüche der Mutter zu wehren. Sie sei zu Hause ausgezogen und später, während der ersten Schwangerschaft, mit ihrem heutigen Ehemann zusammengezogen. Die besten Zeiten mit der Mutter habe sie erlebt, als diese für ein paar Jahre einen Freund hatte. Aber auch sonst habe sie sich in ein von ihrer Mutter weitgehend unabhängiges Leben eingerichtet. Für den damaligen Psychotherapeuten hatte sie ihre Lebensgeschichte aufgeschrieben. Frau S. übergab mir diesen Text mit den Worten, ich könne hier nachlesen, wie es während ihrer Kinderjahre zwischen ihr und ihrer Mutter gewesen sei.
Die Lektüre ihrer Kindheitserinnerungen bestätigt meine Vermutungen. Aus dem Text erfahre ich, dass Frau S. Eine zwei Jahre ältere Schwester hat. An den Vater hat sie keine Erinnerungen; der starb, als sie zwei Jahre alt war. Liebevolle Zuwendung gab es von der Mutter für keine ihrer beiden Töchter, Anerkennung nur für Wohlverhalten. Dieses Wohlverhalten hatte in den unterschiedlichen Altersstufen der Kinder jeweils anders ausgesehen, so die Erinnerung der Klientin. Zunächst war es darum gegangen, dass die Mädchen als wohlerzogen gelten. Damit glaubte die allein erziehende Mutter, gegenüber Nachbarn und Angehörigen in einem besonders guten Licht zu erscheinen – zu der damaligen Zeit und in einem Ort wie Hamburg nichts Ungewöhnliches. Hier konnte Frau S., als die Jüngere und Niedlichere der beiden, immer gut punkten. Später, nach ihrer Einschulung, brachte sie gute Schulnoten mit nach Hause. Der Mutter bedeuteten in dieser Zeit gute schulische Leistungen sehr viel und so wurde sie der älteren Schwester deutlich vorgezogen. Die Mutter machte keinen Hehl daraus, sie lieber zu mögen als die ungezogene und faule erstgeborene Tochter. Dann aber stellte das Leben andere Weichen, erfahre ich aus der Darstellung meiner Klientin. Die Schwester war zur weiterführenden Schule in ein Internat gekommen. Dort wurde sie, den gestrengen Bewertungen und Ungleichbehandlungen der Mutter entronnen, eine gute Schülerin. Auch weiterhin schlug sie einen braven, eher angepassten Lebensweg ein. Frau S. hingegen stellte sich sowohl zu Hause als auch in der Schule zunehmend gegen die Regeln. Über ihre Schwester wurde zu Hause viel und gut gesprochen. Die Mutter lobte ihre Selbstständigkeit und ihre meist guten Schulnoten. Auch die gut gepflegten Haare, die adrette Kleidung und das höfliche Benehmen wurden meiner Klientin ständig vor Augen geführt und vorgehalten. Kurzum, die meist abwesende ältere Schwester wurde von der Mutter idealisiert. Funktionalisiert jedoch, das heißt, für die Zwecke der Mutter eingesetzt, wurden beide Kinder. Das Eine als Ideal, um den freudlos gestalteten Alltag der Mutter aufzuhellen. Als Sündenbock das Andere, um das immerwährende Gefühl des Versagens der Mutter zu rechtfertigen.
Es ist wichtig, die Geschichte dieser Mutter und ihrer Kinder richtig zu verstehen. Für mich, um in der Beratung die richtige Richtung einzuschlagen; für meine Klientin, um die eigenen, zutiefst ablehnenden Gefühle der Mutter gegenüber zu verstehen und nicht dauerhaft in einem Schuldkonflikt stecken zu bleiben.
Häufig geht es in der Beratung von Familien oder von Einzelpersonen, die mit Themen aus der Herkunftsfamilie zu mir kommen, darum, den guten Kern einer Beziehung herauszuarbeiten und die Beteiligten auf die tragenden Anteile einer Eltern-Kind-Bindung zurückzuführen. Aber nicht in jedem Fall. In manchen Fällen ist es von Nöten, eine dauerhaft krank machende Beziehung loszulassen. Erst recht dann, wenn das Elternteil – wie die Mutter von Frau S. – sich in keiner Weise durch eine wie auch immer geartete Einsicht an dem Heilungsprozess beteiligt. Wie in all solchen Fällen, die ich in meiner Praxis bisher erlebt habe, hat auch diese Mutter mit großer Empörung auf die Einladung des damaligen Therapeuten von Frau S. reagiert.
Empörung über die Zumutungen durch die Tochter seien heute überhaupt die einzige Empfindung, die die Mutter immer wieder ausdrückt, so beschreibt mir meine Klientin heute die aktuelle Beziehung. Wann immer sie die Mutter besuche, gegenwärtig ja immerhin bis zu viermal in einer Woche, sei diese empört – über spätes Kommen oder (beim Abschied) über die wenige Zeit, die man nur gehabt habe. Niemals stelle die Mutter Fragen zum Leben ihrer Tochter oder wie es ihr gehe. Statt dessen ereifere sie sich in einem nicht endenden Wortschwall über nutzlose Nachbarn, die zu keinen Hilfsdiensten bereit sind, über die Schlechtigkeit der Welt, wie man sie in den Nachrichten erfahre, oder darüber, wie schlecht die Enkel doch erzogen sein müssen – sie könnten sich schließlich mal melden!
Aus den Schilderungen wird sehr deutlich, wie diese Beziehung einseitig zu Lasten meiner Klientin geht. Frau S. erscheint als bloßes Werkzeug für die krankhaft narzisstische Empörung der Mutter gegenüber der ganzen Welt. Hier lässt sich kein guter Kern entdecken, hier kann ich meiner Klientin nicht helfen, sich auf tragfähige Aspekte in der Beziehung zu ihrer Mutter zu konzentrieren (und ihr vielleicht die eine oder andere Eigenart mit Blick auf ihr Alter zu verzeihen). Nein, im Wesen dieser Beziehung steckt nichts Tragfähiges, kein immanentes Gutes. Hier kann es in der weiteren Beratung – nach den eben skizzierten sorgfältigen biographischen Erkundungen und der Lektüre des damaligen Therapieberichts – nur um eine Begleitung aus der Beziehung heraus gehen. Um eine Trennung von der Mutter. Für das ursprüngliche Familiensystem kommt jede Hilfe zu spät.
In dieser Weise spreche ich nun mit Frau S. – vorsichtig, aber doch klar, nichts weglassend, nichts beschönigend. Ich sehe, wie bei meiner Klientin neben der Trauer um ein lebenslanges, erfolgloses Bemühen beinahe sofort eine Erleichterung einsetzt. Nach langem Schweigen ist der erste Satz von Frau S. folgender: „Ich habe es eigentlich gewusst. Ich habe und hätte mich nie getraut, das laut auszusprechen oder auch nur im Inneren zu denken. Auch kein anderer hat sich das jemals getraut.“. Zugleich ist Frau S. sicher, dass sowohl ihr Mann als auch ihre beiden fast erwachsenen Söhne dem Trennungsgedanken zustimmen werden. Ihre Söhne würden sicher eine eigene Beziehung zu ihrer Oma behalten wollen, denn die sei nicht so einseitig ausgeprägt. (Anders ihre gute Freundin aus Hamburg. Die würde nicht zustimmen. Aber nur deshalb nicht, weil sie wohl ein ähnliches Thema mit ihrer Mutter hat, wie meine Klientin nun glaubt.).
Im weiteren Gespräch verabschiedet sich Frau S. nach und nach von der Vorstellung, jemals einen liebevollen Kontakt zu ihrer Mutter haben zu können. Sie beginnt in vorsichtigen Schritten mit der Trennung. Sie lässt die Beschuldigungen der Mutter nicht mehr so nah an sich heran kommen. Sie besucht die Mutter seltener, kommt später und geht früher, ohne sich allzu sehr über die Beschwerden der Mutter zu kümmern. Es gelingt ihr bereits das eine oder andere Mal, auf eine Rechtfertigung zu verzichten. Dennoch liegt hier noch einiges an Arbeit vor uns, bevor sich Frau S., vor allem innerlich, ganz von ihrer Mutter lösen kann.
Am Ende muss ich noch eines klarstellen. Der Ausgang dieses Beratungsprozesses ist offen. Es ist unklar, wie weit sich Frau S. auch im wirklichen Leben von der Mutter trennen muss und wird. Aber es zeigt sich schon jetzt, wie sich die unselige Verstrickung allmählich löst. „Ich merke, wie sich meine Verpflichtung, meine Mutter glücklich zu machen, schon verringert hat“, sagte Frau S. in unserer letzten Sitzung, sichtbar entspannter als bei unserem ersten Gespräch.